20.11.2019, 5963 Zeichen
Vollversammlung der AK Wien. Liebe Aktionäre, ich muss Euch sagen, Hauptversammlungen sind nur was für Weichlinge, die Harten gehen auf die Vollversammlung der AK Wien. Es gibt nichts Spannenderes, sage ich Euch. 12 Fraktionen mit teils unerwarteten Anträgen, aber im Grunde kann ich 99% der Wortmeldungen durchaus nachvollziehen. Es hapert lediglich am Verständnis des Wesens von Aktiengesellschaften, da musste ich ihnen etwas erklären, und ich habe durchwegs Erstaunen geerntet. Gut, fangen wir mit der Disziplin an: Gegen Ende der achtstündigen HV hatte sich wohl die Hälfte der AK-Räte schon vertschüst, manche mussten die Eisenbahn erwischen usw., niemand hat offenbar mit dieser Dauer gerechnet. Hier ähneln die Arbeiter stark den Aktionären, da hält es auch die Hälfte nicht bis zum Schluss aus. Es gab 12 Fraktionen, die meisten davon wollten sich auch bemerkbar machen, daher kam es zu unzähligen Wortmeldungen und unzähligen Anträgen.
Einige AK-Räte wurden auf der Vollversammlung am 12.11.19 nachträglich angelobt. Drei weibliche Geburtstagskinder im Saal bekamen Blumen. Nach der Zurücklegung eines Vorstandsmandats sollte ein neues Vorstandsmitglied gewählt werden. Die Grünalternativen forderten eine geheime Wahl, dieser Antrag wurde mit den Stimmen so ziemlich aller anderen Fraktionen abgelehnt. Das neue Vorstandsmitglied arbeitet sowohl für die AK als auch für den ÖGB, interessanterweise sah niemand hierin einen Interessenkonflikt. Immerhin ist die AK eine gesetzliche Interessenvertretung, der ÖGB eine freiwillige, es sollte hier ein gewisser Konkurrenzkampf herrschen. Es wurde der Zusammenhalt von AK und ÖGB im Interesse der Arbeitnehmer/innen beschworen. Ah ja, die Abgesandten der Arbeiter und Angestellten sind durchwegs normale Leute, normal angezogen, Menschen aus dem echten Leben halt. Ich war einer von sehr wenigen mit Sakko. Als Fremdkörper fühlte ich mich trotzdem nicht, die Genossen waren alle gleich per Du mit mir. Es war amüsant, wie vorsichtig die Geschenkgeber das Geschenk für die Neue aus der Tasche holten. Nur mit Schutzhandschuhen. Es war ein lila T-Shirt. Offenbar ist Frau Anderl eher den grünen Fußballern zugeneigt, nicht den violetten. Aber egal, auf welche Farbe man steht, gelacht haben alle. Die Liste Türkis in der AK hat offenbar nichts mit den Türkisen aus der Bundespolitik zu tun, das ist eine der türkischen Fraktionen in der AK.
Nationalökonom Markus Marterbauer, auch Vizepräsident des Fiskalrats, hielt ein längeres Referat. Wir befänden uns nach einem langen Aufschwung nun am Wendepunkt zu einem wirtschaftlichen Abschwung. Wir hätten aber eine außerordentlich gute wirtschaftliche Ausgangslage. Mehr als 300.000 neue Jobs seien geschaffen worden, überwiegend sogar Vollzeitjobs, die Arbeitslosigkeit sei um 50.000 zurückgegangen. Fachkräftemangel, ja, den gebe es, aber ein gewisser Fachkräftemangel bedeute gute Ausgangsvoraussetzungen für Lohnverhandlungen. Österreich habe den Aufschwung ähnlich wie Deutschland mitgemacht, im letzten Jahr hätten wir überholt, diese Exportdynamik sorge dafür, dass wir 20% nach Osteuropa exportieren. Die Industrieproduktion in Deutschland befinde sich auf dem Niveau von 2015, in Österreich liege sie 17% über 2015. In Österreich sei um mehr als 30% mehr als 2015 investiert worden, in Deutschland seien es nur 17% über dem Niveau von 2015 gewesen. Deutschland müsste pro Jahr um 90 Mrd. Euro mehr investieren, um das österreichische Niveau zu erreichen (die Öffentliche Hand um 35 Mrd. Euro mehr, Private noch einmal 50 Mrd. Euro).
Seit 2013 seien fast nur noch Vollzeitjobs geschaffen worden, Teilzeitjobs seien sogar zurückgegangen. Es seien Jobs geschaffen worden, von denen man gut leben könne. Die Interessenvertretung werde Lügen gestraft, die den Standort als abgesandelt bezeichnet habe (Anmerkung: Wirtschaftskammer ist gemeint). Hier sei der beste Wirtschaftsstandort Europas. Wir hätten ein gutes Sozialsystem. Das Wirtschaftswachstum werde heuer mit 1,5% prognostiziert, im nächsten Jahr mit 1,3%-1,4%. Das sei eher die optimistische Seite, es könnte etwas schlechter kommen. Im Export gehe es mit dem Aufschwung zurück, stabil seien der (Inlands-)Konsum und die Bauinvestitionen. Aber wir müssten uns darauf einstellen, dass die Arbeitslosen mehr werden. Das sei sehr gefährlich, über 55 finde man ganz schwer einen neuen Job. Unternehmen würden nach Geburtsjahrgang aussortieren, ohne dass die Bewerber überhaupt zum Bewerbungsgespräch geladen würden. Man sollte zielgerichtet und nicht zu spät reagieren. Mit rund 80.000 gäbe es relativ viele offene Stellen, leider baue das AMS gleichzeitig Förderungen für Qualifizierungsmaßnahmen ab. Das AMS habe relativ wenige Mittel. Es sollte dahin qualifiziert werden, wo es noch offene Stellen gibt. Ältere Arbeitslose müsste man, wenn es nicht anders geht, in gemeinnützige Betriebe vermitteln. Arbeitszeitverkürzung wäre eine Lösung, 4-Tage-Woche. Sehr bald werde man in der Industrie über Kurzarbeit reden. Kurzarbeit helfe aber nur dann, wenn sie mit Qualifizierung verbunden ist. Wir würden verstärkt Infrastruktur und Regionalpolitik brauchen. Die Beschäftigten im Automarkt, dem eine Transformation bevorsteht, würden zu den höchstqualifizierten gehören. Wir müssten sowieso in die Klimakrise investieren. Das Geld liege auf der Straße, die Zinsen seien negativ. Wenn der Staat 10 Mrd. aufnehme, müsse er nur 9,95 Mrd. zurückzahlen, somit würden die Kosten der Investitionen immer geringer, in dieser Situation müsse man einfach reagieren und Investitionen vorziehen. Er sprach sich "gegen diese Schuldenbremse" aus. Die Öffentliche Hand möge in die Bahn, in die Sanierung Öffentlicher Gebäude usw. investieren. Man müsse sich fragen, ob die Köst-Senkung etwas bringt, denn wenn das Geld dann an Aktionäre fließen würde, sei es verloren, es verschwinde auf dem nebulosen Finanzmarkt. Die Rede wird fortgesetzt.
(Der Input von Günter Luntsch für den http://www.boerse-social.com/gabb vom 20.11.)
Börsepeople im Podcast S12/10: Robert Halver
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