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Der Offline-Mensch (Günter Luntsch)


05.04.2018, 8361 Zeichen

Aus dem Börsenbrief im Sinne des Börse Social Network Club. http://www.boerse-social.com/gabb 

Am Anfang war das Vierteltelefon. Der Stolz des Mittelstands. Denn arme Leute hatten kein Telefon. Alle paar Minuten probieren, ob die Nachbarin trotz hoher Telefongebühren immer noch mit ihrer Schwester in Mistelbach Kochrezepte austauscht, und flugs konnte man mit Verwandten und Freunden in 100 km Entfernung telefonieren. Irgendwann war es dann aus mit der gutnachbarlichen Zusammenarbeit, "ganze" Telefone waren die Errungenschaft. Wer es sich leisten konnte, bestellte sich den Einzelanschluss. Wie aus Science-Fiction-Filmen muteten die ersten Autotelefone an, ein Käferfahrer mit Autotelefon war begehrter als ein Porschefahrer ohne Autotelefon. Das D-Netz ist mittlerweile auch Geschichte. Es folgten tragbare Mobiltelefone, die im Lauf der Zeit immer kleiner wurden. Der Nokia Communicator liess die Augen des modernen Menschen leuchten. Internetpionier Libro hatte im Jahr 2000 dann das Anyweb Web Screen Phonevon Samsung um 9.990 Schilling im Laden. Nur zum Anschaun, ausprobieren durfte man es nicht, war ja ein wertvolles Gerät. Aber ein teurer ISDN-Anschluss war nötig. Es kamen leistungsfähigere PCs, dann die Laptops, die Tablets und die Smartphones. Heute haben Hinz und Kunz ein Smartphone, und wer keines hat, wird angeschaut, als käme er vom Mars.

Es wertet uns auf, wenn wir dauernd erreichbar sind und auch angerufen werden. Wenn bei einem Vortrag oder auf einer Hauptversammlung NUR DIESES Smartphone zu heulen beginnt, vielleicht einen Klingelton, den die anderen nicht haben, z.B. "Schnappi, das kleine Krokodil", dann weiss der ganze Saal: Herr Mayer ist wichtig, weil Herr Mayer wird jetzt schon das dritte Mal angerufen, während nach den anderen 300 Leuten im Saal kein Hahn kräht.

Andrerseits versklaven wir uns entweder selbst (Sucht!), oder unsere Arbeitgeber bzw. unsere Geschäftspartner machen uns zu Sklaven, wenn wir dauernd erreichbar sein MÜSSEN. Oder wenn wir glauben, rund um die Uhr erreichbar sein zu müssen. Wer in der Früh die Pendler vom Zug zur U-Bahn rennen sieht, sieht fast nur mehr "Zombies", in gebückter Haltung schnell schreitende Menschen, die auf das Display ihres Smartphones starren. Sind die Guten-Morgen-Wünsche der Facebook-Freunde so wichtig? Was wird sein, wenn jemand einmal 1 Woche lang nicht online ist? Wird es den Facebook-Freunden auffallen? Na, probiert es mal, Ihr werdet sehn, wie entbehrlich Ihr seid. Tut natürlich weh, daher haben die meisten Menschen Angst, es auszuprobieren. Wäre ja schade um so viele Freundschaften. Jedenfalls ist es im richtigen Leben schon schwer genug, mit Familienmitgliedern und engsten Freunden in regem Kontakt zu bleiben, aber hundert oder tausend Freunde zu verwalten und bei Laune zu halten bedeutet bald echten Stress. Es bleibt keine Zeit mehr fürs Wesentliche, wenn man sich vom Bauchweh des Franz bis zum Liebeskummer der Maria durchklicken und zumindest höflich einen traurigen Smiley hinterlassen muss.

Den Homo Offline gibt es fast nicht mehr in diesem entwickelten Lande, fast jeder Mensch hat zumindest eine e-mail-Adresse, fragt sie auch ab und zu ab, die ältere Generation mit eingeschlossen. Aber der Unterschied zwischen dem gemäßigten Homo Nichtimmeronline und dem fundamentalistischen Homo Immeronline ist krass. Nicht mehr abschalten können, weil um 2 Uhr früh noch Gute-Nacht-Grüße kommen könnten, die auch beantwortet werden müssen? Ich möchte durchschlafen. Ich möchte auch nicht mehr als 8 Stunden pro Tag vor dem Bildschirm verbringen. Da müssen sich Internet-Recherchen ausgehen, Preisvergleiche, auch die neuesten Nachrichten lese ich gerne online, und die Mailbox wird abgefragt. Aber nicht rund um die Uhr.

Ja, es ist ein Luxus, nicht immer online sein zu müssen, nicht jeder kann ihn sich gönnen. Aber es ist notwendig, auch ein Leben neben dem Internet zu führen. So viel ungefilterter "Müll" liegt täglich in der Mailbox, von ca. 150 Spams täglich erregt maximal einer mein Interessse, ein kurzer Klick, und wenn der Inhalt nichts taugt, ist die Nachricht auch schon gelöscht. Ich lese fast ausschließlich Zusendungen, die ich auch bestellt habe, speziell was Wirtschaftsnachrichten betrifft, obwohl sicher 20 oder 25 wohlmeinende Versender mir täglich Empfehlungen für todsichere Kryptowährungen und Minenwerte schicken. Ich kann diese Massen an Informationen nicht verarbeiten geschweige denn überprüfen. Also konzentriere ich mich auf die paar Absender, die ich kenne, und wo ich annehmen kann, dass sie gewissenhaft recherchieren. Die Reportagen, Interviews, Hintergrundnachrichten und vor allem auch Regionalnachrichten lese ich gerne auf Papier. Für mich haben Profil, Kurier, Wiener Zeitung und Standard nach wie vor eine Bedeutung. Und mehr Gewicht als ein Newsletter, der mich für Pennystocks vom anderen Ende der Welt interessieren möchte.

Ganz arm sind die Menschen, die auf firmeninternen "sozialen" Netzwerken sein müssen. Wo das Computersystem auch das Telefon mit überwacht, und wenn jemand 5 Minuten lang keine Taste berührt, wird den Kollegen und Chefs angezeigt, dass dieser Kollege "abwesend" ist. So abwesend, wie wenn er grad gemütlich im Wirtshaus sitzen würde statt im Büro. In Wirklichkeit sortiert er die Post oder stellt komplizierte Berechnungen an, die man nur offline durchführen kann. So etwas ist Gift für das Betriebsklima, wenn man den Kollegen nach 2 Wochen fragt: "Wo waren Sie am 15.3. zwischen 10 und 12 Uhr? Sie waren nicht anwesend!" Dumme Chefs, die das glauben, was das Computersystem sagt, gibt es mehr, als man glauben möchte. Am besten, wenn auch nicht produktivsten, ist es also, die 8 Stunden täglich fast ununterbrochen vor dem PC zu sitzen und alle 5 Minuten eine Taste zu drücken. Über kurz oder lang werden die produktivsten Mitarbeiter sich das nicht gefallen lassen und die Firma verlassen. Übrig bleiben die Tastendrücker, das mag traurig sein, aber wenn die Chefs mit dem firmeninternen sozialen Netzwerk nichts besseres anzufangen wissen, ist das leider unausweichlich. Und irgendwann geht die Firma den Bach hinunter.

Ich gehöre der Generation an, die einen echten Bildschirm und eine echte Tastatur braucht, ein Smartphone-Display ist mir zu klein, und auch das Tippen am Smartphone ist mir zu beschwerlich. Wenn nun Lidl und McDonalds Kundenbindung ausschliesslich per App praktizieren wollen (Treuepunkte werden per App aufs Smartphone gebucht), fühle ich mich ausgeschlossen. Beide Unternehmen wenden sich üblicherweise an das normale Volk, fast jedermann kann es sich leisten, dort einzukaufen. Und plötzlich wollen sie nur mehr die Smartphone-Elite begünstigen? Schade. Ob wirklich alle Smartphone-Besitzer sich eine Lidl- und McDonalds-App installieren wollen? Man weiss ja nie, was man sich mit einer App holt, das ist immerhin ein Programm, das an der Software des Smartphones herumfuhrwerken kann. Ich täte es nicht wollen, hätte ich ein Smartphone, mein Vertrauen an den Anbieter geht nicht soweit, dass ich annehmen würde, dass das vom Anbieter auf 100% Trojanerfreiheit geprüft wurde. Solche Apps kommen ja oft von Drittanbietern.

Was ich eigentlich überhaupt nicht mag: Möbelhaus-Prospekte. Ich kriege pro Woche mindestens 10 Möbelhaus-Prospekte, manche per Post, manche per Werbematerialverteiler, manche als Zeitungsbeilage. Ich habe kein Interesse an Möbeln. Trotzdem unterscheiden sich diese Möbelhaus-Prospekte von den Spams in meiner Mailbox: ich blättere sie zumindest durch. Und bleibe manchmal auf der Interieur- oder Haushaltsgeräte-Seite hängen: da schau her, Möbelix hat ein Edelstahlgartenschauferl um 1 Euro? Aber zahlt sich nicht aus, eines Gartenschauferls wegen zum Möbelix zu fahren. Vielleicht find ich ja einen günstigen Wasserkocher auch. Und schon summiert es sich. Online hätte mich Möbelix nie in seine Filiale gekriegt.

Das heißt: auch wenn man per Internet 90% der Bevölkerung erreichen kann, es gibt daneben noch die Menschen, die nicht online sind, und die Menschen, die lieber offline als online sind, auf diese potentiellen Kunden sollten wir nicht verzichten. Ja, auch bei der Geldanlage gilt das: es gibt nach wie vor Menschen, die ihre Wertpapieraufträge persönlich auf der Bank aufgeben wollen, die keinen Diskontbroker und kein Internet haben. Sie zahlen dafür meist auch gerne mehr. Für die Betreuung, für den persönliche Service.
McDonalds (132,06/132,25 , 1,44% )


(05.04.2018)

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